Internationaler Tag der Ersten Hilfe: Lebenslanges Lernen

Vor 22 Jahren rief das Rote Kreuz den Internationalen Tag der Ersten-Hilfe ins Leben. Dieses Jahr findet er am 10. September 2022 statt. Wir sprachen mit Markus Mader, Direktor des Schweizerischen Roten Kreuzes, über die Idee und die Bedeutung dieses Tages – und über die Erste-Hilfe in und ausserhalb von Unternehmen.

Erste-Hilfe Nothelferkurs
Beitrag vom 7.9.2022

Interviewer, Stefan Kühnis: Markus Mader, weshalb entschied sich das Rote Kreuz im Jahr 2000 dazu, den Internationalen Tag der Ersten Hilfe zu lancieren?

Markus Mader: Erste Hilfe ist beim Roten Kreuz seit den ersten Stunden ein Thema. Aus den Erfahrungen von Henry Dunant als freiwilliger Ersthelfer für Kriegsverletzte auf dem Schlachtfeld im Jahr 1859 entstanden sein Buch Eine Erinnerung an Solferino und die ganze Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung mit dem IKRK und Nationalen Gesellschaften in 192 Ländern. Wir waren aber der Ansicht, dass die Wichtigkeit der richtigen Ersten Hilfe bei Unfällen oder Katastrophen noch mehr verankert werden muss und dass es diesbezüglich noch mehr Sensibilisierung braucht. Ein Teil davon ist das lebenslange Lernen, was dieses Jahr übrigens auch das Motto des Internationalen Tages der Ersten Hilfe ist.


Interviewer, Stefan Kühnis: Wie hat sich die Erste Hilfe in den 22 Jahren seit der Lancierung des Internationalen Tages der Ersten Hilfe verändert?

Markus Mader: Erste Hilfe spielte lange Zeit eine Nebenrolle in der Rettungskette. Mit der Zeit gewann man aber die Erkenntnis, dass ein schnelles Handeln durch Ersthelferinnen und Ersthelfer Komplikationen und Spätfolgen für die Patientinnen und Patienten stark minimieren kann und den Verlauf der Genesung verbessert. Das hat nicht einmal so sehr mit der Qualität der Ersten Hilfe zu tun, sondern nur schon damit, dass man überhaupt etwas macht. Dass der Nutzen der präklinischen Ersten Hilfe mehr und vermehrt wissenschaftlich nachgewiesen wurde, führte auch zu einem kommerziellen Bewusstsein. Immer mehr Anbieter sahen einen Markt, was aber die Qualität der Angebote nicht nur steigerte. Trotzdem kann Konkurrenz nützlich sein. Die Anforderungen stiegen und werden weiter steigen. Dabei müssen sich die Ersthelfenden bewusst sein, was sie überhaupt können müssen. Die verschiedenen Glieder der Rettungskette stehen nicht in Konkurrenz zueinander, sondern sind komplementär. In der Schweiz ist rasch ein vollberuflicher Rettungsdienst vor Ort, deshalb müssen Ersthelfende vor allem ihre Rolle in den ersten Minuten am Einsatzort bestmöglich wahrnehmen. Weitere spannende Veränderungen machte die Digitalisierung möglich: es gibt heute Erste-Hilfe-Apps, hybriden Unterricht über das Internet und vieles mehr. Das ist noch nicht ausgereizt. Auch dass sich AED in Firmen und in der Öffentlichkeit verbreiten, ist enorm wichtig. Und die Sensibilisierung für den Selbstschutz der Ersthelfenden nimmt zu – ein toter Retter ist nämlich ein schlechter Retter.


Interviewer, Stefan Kühnis: Wie beurteilen Sie die Erste Hilfe in den Unternehmen, sprich durch Betriebssanitäten?

Markus Mader: Dass die Erste Hilfe in den Unternehmen eine rechtliche Basis hat und dass die Pflichten von Arbeitgebenden so verankert sind, ist sehr wichtig. Mit der Einführung der IVR-Stufen 1 bis 3 hat sich vieles um die entsprechenden Ausbildungen geklärt. Die Ausbildungen können stufenweise erfolgen, sind umfassender und es gibt besseres Material dafür. Auch die Vorgabe, dass innert weniger Minuten ein Ersthelfer oder eine Ersthelferin vor Ort sein muss, ist eine wichtige Rahmenbedingung. Aber natürlich gibt es auch im Bereich der Betriebssanitäten und der einzelnen Umsetzungen noch viel zu tun. Dafür ist eine Vereinigung wie die SVBS sehr wichtig. Sie kann einen Praxisaustausch bieten, Fragen klären und den ganzen Bereich weiterentwickeln. Das ist in der Ersten Hilfe ohnehin überall wichtig: man muss sich weiterentwickeln, neue Möglichkeiten nutzen und neue wissenschaftliche Erkenntnisse einfliessen lassen. Man hat nie ausgelernt.

Markus Mader, Direktor des Schweizerischen Roten Kreuzes

"Es gibt in der Rettungskette Platz für alle. Wer schon vor Ort ist und Erste Hilfe leisten kann, nimmt niemandem etwas weg. Die Rettungskette ist ein Miteinander und kein Wettbewerb."

Markus Mader

Interviewer, Stefan Kühnis: Es gibt rund um die Erste Hilfe einige Mythen und Missverständnisse. Was kann man dagegen tun?

Markus Mader: Diese Mythen gibt es. Beispielsweise rund um das Verschlucken einer Zunge oder um juristische Folgen bei falschen Erste-Hilfe-Massnahmen – obwohl es höchstens Folgen hat, wenn man nicht hilft. Rund um Defibrillatoren gibt es Ängste, ob man sie richtig anwenden würde. Solche Mythen und Ängste kann man nur durch Schulungen und Wiederholungen aus der Welt schaffen. Wir machen das auch in unserer Geschäftsstelle in Bern. Dieses Jahr müssen alle 500 Mitarbeitenden wieder einen Repetitionskurs machen. Es braucht das lebenslange Lernen.


Interviewer, Stefan Kühnis: Sollte das schon in der Grundschule beginnen?

Markus Mader: Ganz klar, sogar schon im Kindergarten. Die Erste Hilfe müsste in den Lehrplan. Da kann man mit sehr wenig Aufwand sehr viel erreichen. Zweimal zwei Lektionen pro Schuljahr würden schon reichen. Dafür kämpfen wir, dafür lobbyieren wir. Vielleicht müssten wir im Parlament einen neuen Vorstoss anregen. In einer Umfrage, die wir zusammen mit der Helsana durchführten, zeigte sich: nur jede zweite Person traut sich zu, im Notfall tatsächlich Erste Hilfe zu leisten. Wir müssen die Menschen dafür begeistern und ihnen die Angst vor der Ersten Hilfe nehmen. Das kann man nur mit Üben erreichen.


Interviewer, Stefan Kühnis: Welche grossen Aufgaben gibt es sonst noch in der Ersten Hilfe zu lösen?

Markus Mader: Sie sollte nicht nur ein obligatorisches Schulfach sein, sondern wir müssten auch Wege finden, wie dieses Wissen später im Leben regelmässig aufgefrischt werden kann. Hier müssen wir auch über den Zugang dazu nachdenken. Damit wirtschaftlich benachteiligte Menschen solche Kurse machen können, müssten sie wohl kostenlos sein. Damit die Migrationsbevölkerung mitmachen kann, müssen Sprachprobleme aus dem Weg geräumt werden. Wir müssen die Wertschätzung für die Freiwilligenarbeit stärken, auch im Bereich der Ersten Hilfe. Vielleicht liesse sich die Freiwilligenarbeit in Krisensituationen zudem über die Erwerbsersatzordnung finanzieren. Und nicht zuletzt möchte ich betonen: Es gibt in der Rettungskette Platz für alle. Wer schon vor Ort ist und Erste Hilfe leisten kann, nimmt niemandem etwas weg. Die Rettungskette ist ein Miteinander und kein Wettbewerb.